Physiotherapie am Äquator

Ein Bericht von Kathrin Eyer

Im Oktober 2019 flog ich mit der deutschen Organisation „Let Doctors Fly“ für acht Wochen mit einem Kollegen nach Uganda, um dort als Physiotherapeutin zu arbeiten. Geblieben bin ich am Ende für vier Monate.

Let- Doctors-Fly (LDF) kümmert sich in Uganda und Ghana um Kinder mit Behinderungen und benachteiligte Kinder, ermöglicht ihnen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem, bietet ihnen Schutz, ein zu Hause und eine Zukunft. Dafür entsendet das Projekt mehrmals im Jahr Physiotherapeut*innen, Ärzt*innen und Zahnärzt*innen nach Afrika.

In Uganda selbst gibt es zwei Projektorte. Der erste Ort war ein Therapie-Zentrum in der ländlichen Region im Ugandas Westen, in der Kinder mit Behinderungen Physiotherapie erhalten und medizinisch versorgt werden. LDF eröffnete es , um das Elend der behinderten Kinder in den umliegenden Dörfern zu reduzieren. Da viele Eltern den ganzen Tag auf den Feldern arbeiten, liegen die Kinder eingesperrt in den Hütten auf dem Boden und sind ihrem Schicksal ausgesetzt. Und von ihnen gibt es viele. Sehr viele. Die meisten leiden an einer ICP (Infantilen Zerebralparese), hervorgerufen durch Meningitis, Malaria-Infektionen oder Sauerstoffmangel während der Geburt. Das nächste Krankenhaus ist 100km entfernt, medizinische Hilfe ist schwer zu bekommen.

Im Therapiezentrum arbeiten zwei einheimische angelernte Frauen, ausgebildete Physiotherapeuten gibt es in Uganda höchstens in der Hauptstadt, sie sind rar und teuer. Unsere Aufgabe war es, die beiden soweit zu schulen und auszubilden, damit sie die Kinder selbstständig behandeln können. Die eine von ihnen ist gleichzeitig „Nurse Assistent“ und ersetzt in der Gegend den Arzt, die Apotheke und nun auch noch eine Physiopraxis. Sie versorgt im Nebenzimmer Patienten aller Altersklassen mit Infusionen gegen Malaria und Durchfall, verteilt Tabletten gegen Würmer, Schmerzen, Fieber, versorgt Wunden, impft. Jeder zahlt, was er kann, der Rest wird durch Spenden aus Deutschland bezahlt. Gerade war Malariahauptsaison, sodass schon morgens eine Schlange mit fiebrigen Patienten mit glasigen Augen auf sie wartete, eingerollt in schmutzige Decken und Schals. Agnes, die zweite Frau, ist Analphabetin, ein Schicksal, dass sie mit vielen anderen Frauen hier teilt, sie kann kein Wort Englisch.

Sie hat selbst zwei behinderte Kinder, die sie jeden Tag mit ins Zentrum bringt, sie lernt schnell und ist sehr liebevoll und erfahren im Umgang mit den Kindern. Ein Motorradtaxi holt die Kinder in ihren Dörfern ab und bringt sie ins Zentrum. Der Zustand der Kinder war teilweise besorgniserregend. So auch von Giulia. Das siebenjährige Mädchen mit der ICP hat die Größe einer Dreijährigen, jahrelange Spastik führten zu massiven Gelenkkontrakturen. Ihre müden Augen blickten ins Leere, sie war stark unterernährt. Sonden oder Sondernahrung gibt es hier nicht. Ob die Kinder nicht richtig schlucken können oder einfach nichts zu essen bekommen, unterscheidet sich im Ergebnis nicht, die Lebenserwartung dieser Kinder ist entsprechend gering. Doch es lässt sich etwas ändern! Diese Kinder können erheblich von Physiotherapie, liebevoller Zuwendung und Aufklärung der Familie über die Krankheit profitieren.

Bekommt eine Frau hier ein behindertes Kind, verlässt der Mann sie meist sofort. Auch wollen die Nachbarinnen nichts mehr mit ihr zu tun haben, aus Angst, dass sich die „Hexenkraft“ auf sie überträgt. Die Frau muss dann alleine für sich, das behinderte Kind und die vielen Geschwister sorgen. Fast hinter jedem Kind, das hierher kommt, verbirgt sich eine ähnliche Geschichte. Für die Mütter ist das Therapiezentrum ein Ort zum austauschen, sie treffen Ihresgleichen und bekommen, wenn nötig, ebenfalls medizinische Hilfe. Nicht selten kamen auch alle Geschwisterkinder mit ins Zentrum, denn Spielsachen und Malsachen waren genug für alle da.

Die zweite Patientin war ein achtjähriges Mädchen, das im Alter von vier Monaten mit den Füßen voraus in einen Kessel mit heißem Porridge gefallen ist, ohne Versorgung sind die Füße so geheilt, dass die Fußsohlen nach oben zeigen. Dass sie damit trotzdem laufen gelernt hat, ist ein anatomisches Wunder. Sie wurde zur weiteren Abklärung zu einem Orthopäden in die nächste Stadt geschickt, wenn eine Operation möglich und sinnvoll ist, finanziert das Projekt LDF auch so etwas.

Neben den vielen Zerebralparesen kommen unter anderem auch Kindern mit Klumpfüßen, Down Syndromen, und Muskeldystrophien. Das Spektrum ist ähnlich wie in einer Praxis bei uns, doch sind die Ausmaße der Krankheiten ohne gezielte Versorgung um einiges schlimmer. Vieles hatte ich vorher so noch nicht gesehen. Und doch war es oft erstaunlich zu sehen, welche Lebens- und Überlebensstrategien die Kinder aus der Not heraus entwickelt haben, um sich fortzubewegen oder auf sich aufmerksam zu machen, ganz ohne fremde Hilfe. Die zweite Station des Projekts war eine integrative Schule in Gulu, einer Stadt im Norden Ugandas, in der Kinder mit und ohne Behinderungen zusammenleben und unterrichtet werden.

Die Schule, die Thumbs Up Academy ist in der Art einzigartig in Uganda. Samuel Odwar, der Direktor, hat sie vor zwei Jahren mit Hilfe von Let Doctors Fly gegründet. Er selbst ist Sozialarbeiter, der mittels Stipendium in Indien studieren konnte. Er hat ein großes Herz, einen eisernen Willen, ist Freigeist und Weltverbesserer, der vehement für mehr Aufmerksamkeit gegenüber Behinderungen kämpf. Er hat 21 (!) Geschwister, war Kindersoldat im Bürgerkrieg, stammt aus einer armen Bauernfamilie, ein typisches Leben eben hier in der Subsahararegion, doch er hat es geschafft, aus dem Kreislauf auszubrechen. Dabei ist er aber angenehm bescheiden geblieben. Mit ihm haben wir viel Zeit verbringen dürfen und somit viel über Land und Leute erfahren.

Von knapp 200 Schülern der ThumbsUp haben ca. 25 eine Behinderung unterschiedlichster Art und Ausprägung. Franka, selbst Mutter eines behinderten Kindes, ist für die Pflege und die Therapie zuständig. Auch sie ist nur angelernt, auch sie wurde unterrichtet und geschult. 
Ihr Schicksal steht stellvertretend für viele Frauen in Uganda und es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, in vielen Ländern der Welt! Eigentlich hatte sie ein armes, aber gutes Leben, sie lebte mit ihrem Mann und den vier Kindern in einem Dorf, sie hatten Land, sie verdiente etwas für die Familie mit Nähen dazu, sie besaß sogar eine eigene Nähmaschine. Doch dann erkrankte Sohn Joseph mit vier Jahren an einer schweren Malaria, die auch das Hirn angriff. Um den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen, mussten sie Land verkaufen. Als klar wurde, dass Josephs Hirn bleibende Schäden davon tragen würde, scheuchte Frankas Ehemann sie samt der vier Kinder aus dem Haus und verbrannte ihre Nähmaschine. Sie floh zu ihrer Mutter, die aber mit dem nun behinderten Enkelkind auch nichts mehr zu tun haben wollte. Seitdem hauste sie in einer winzigen Strohhütte, hätte sich Samuel nicht ihrer angenommen, wer weiß, wie es ihr heute gehen würde. Die Thumbs Up Academy ist für sie und ihre Kinder ein Zuhause geworden.

In der Stadt Gulu sind viele Ressourcen vorhanden, doch wurden sie oft nicht genutzt, meist aus finanziellen Gründen, teils aber auch aus Unwissen über den Nutzen solcher Maßnahmen oder Skepsis gegenüber westlicher Therapiemethoden. Im staatlichen Krankenhaus von Gulu gibt es eine eigene Orthopädiewerkstatt. Dort veranlassten wir für einige Kinder, sofern dies möglich war, die Versorgung mit Korsetten, Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln. Zwei Kinder mit Spina Bifida hatten große eiternde Dekubituswunden, die umgehend im Krankenhaus chirurgisch versorgt werden mussten. Auch die Anleitung über Versorgung und Herkunft dieser Wunden war ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Gefragt war oft nicht nur unser physiotherapeutisches Wissen, sondern medizinisches Basiswissen, das wir aber bei Unsicherheit immer mit entsprechenden Fachleuten aus Deutschland besprechen konnten. Im Laufe des Aufenthaltes fand sich ein Pharmaziestudent, der nun die Wundversorgung überwacht und nun auch Malariatests direkt an der Schule durchführt.

Gelernt habe ich viel, sehr viel! Es war eine intensive und sehr spannende Zeit in Uganda. Mir hat es so gut gefallen, dass ich kurzerhand meinen Aufenthalt um zwei Monate verlängerte. Es war erstaunlich zu sehen, wie viel man mit wenig erreichen kann. Oft waren kreative Lösungen gefragt und die Berufung auf fundamentale Grundprinzipien der Physiotherapie wichtiger als ausgefeilte Techniken aus dem schulischen Konzeptdenken. Manchmal war die Arbeit auch frustrierend, fühlte sich an wie ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts des Teufelskreises aus Elend und Armut, in der Gesundheit und Bildung zum reinen Luxus werden statt zum Grundrecht. Man fühlte sich ohnmächtig ob der Fülle an Problemen. War das eigene Tun genug, um nachhaltig zu helfen? Verständnis zeigen, Wertschätzung entgegenbringen und den Menschen zu zuhören waren oft mindestens so wichtig wie die eigentliche Physiotherapie. Für mich wird es nicht das letzte Mal Uganda gewesen sein. Die Dankbarkeit und Herzlichkeit der Menschen in Uganda war einzigartig und ansteckend, der Umgang mit dem Schicksal inspirierend. Lachen können sie nämlich alle trotzdem, oder gerade deshalb.

Kathrin Eyer
E-Mail k.eyer@let-doctors-fly.org